„Das lass ich mir nicht auch noch nehmen!“ – Über Wein, Trotz und die Freiheit im Glas

Veröffentlicht am 8. August 2025 um 12:26

Seit ich alkoholfrei lebe – und das nun nicht mehr nur als Monatsversuch, sondern als ziemlich gefestigte Lebensweise – fallen mir immer mehr kleine Sätze auf. Diese Alltagsfloskeln, die man vorher überhört hat. Kommentare, über die ich früher gelächelt und genickt hätte. Heute bleibe ich öfter mal daran hängen.

Und frage mich: Was genau steckt da eigentlich dahinter? Einer dieser Sätze ist der hier: „Das Glas Wein am Abend – das lass ich mir nicht auch noch nehmen!“ Klingt harmlos. Nach einem verdienten Feierabend. Nach Genuss, Selbstfürsorge, Rebellion vielleicht. Früher hätte ich mir dabei wohl nur gedacht: Ja klar, wer will schon immer verzichten? Heute höre ich da ganz andere Untertöne. Es klingt ein bisschen, als würde ein trotziges Kind mit verschränkten Armen dastehen, die Stirn in Falten gelegt, die Unterlippe vorgeschoben – „Jetzt reicht’s aber! Ich muss schon Steuern zahlen, aufräumen und meine Cholesterinwerte im Blick behalten – da werd' ich mir doch wohl noch ein Glas gönnen dürfen, oder was?!“

Und weißt du was? Ich versteh’s. Ehrlich. Ich kann diese Stimme im Kopf absolut nachvollziehen. Die Welt ist anstrengend, der Alltag manchmal ein Trampelpfad. Und ja – ein Glas Wein oder ein kühles Bier kann wie eine kleine Rettungsinsel wirken. Aber je länger ich nüchtern lebe, desto mehr merke ich, wie viel da unbewusst dranhängt.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem damaligen Partner. Er war alkoholabhängig, was ich damals zwar wusste, aber lange nicht wirklich ernst nahm – oder vielleicht nicht ernst nehmen wollte. Er erzählte mir mal mit echtem Groll von seiner Exfreundin, die ihm dauernd wegen seines Alkoholkonsums Vorhaltungen gemacht hatte. Ich weiß noch, wie er die Augen verdrehte und sagte: „Die hat immer nur gemeckert. Die wollte mir nicht mal mein Gläschen Wein gönnen.“ Und ich? Ich nickte verständnisvoll. Dachte insgeheim, dass sie wohl etwas verbissen war. Vielleicht übervorsichtig. Oder einfach humorlos.

Heute sehe ich das anders. Sehr anders. Und ich frage mich: Wie oft werden Frauen als Spaßbremsen abgestempelt, nur weil sie sich Sorgen machen? Weil sie nicht mehr zusehen wollen, wie der Partner regelmäßig über den Durst trinkt? Weil sie die Leere nach dem Kater sehen – oder weil sie schlicht zu lange mitgeschwiegen haben? Ich höre in letzter Zeit öfter ähnliche Geschichten. Männer, die erzählen, ihre Frau würde „immer meckern“, sie könnten gar nichts mehr machen, nichts mehr trinken, nichts mehr genießen, ohne dass gleich eine Szene folgt. Und ich frage mich: Ist das wirklich Meckern – oder vielleicht ein leiser Hilferuf? Eine Form von Ohnmacht? Eine Mischung aus Müdigkeit, Frust und der Hoffnung, dass sich doch noch was ändert?

Versteh mich nicht falsch – es gibt sicher auch Beziehungen, in denen Kontrolle und Gängelung keine Seltenheit sind. Aber darum geht’s mir hier nicht. Es geht mir um dieses seltsame Kindheits-Trotzgefühl, das sich offenbar immer wieder meldet, wenn jemand am geliebten Feierabendgetränk rüttelt. „Ich bin erwachsen! Ich darf das!“ Und ja – darfst du. Natürlich. Aber darf man sich auch mal fragen, warum dieses Getränk so ein wichtiges Symbol geworden ist?

Ich glaube, es geht oft um viel mehr als das Getränk an sich. Es geht um ein Gefühl. Um Zugehörigkeit, um Abgrenzung, um Entspannung auf Knopfdruck. Und vielleicht sogar – das ist meine persönliche These – um den Versuch, sich ein Stück Unabhängigkeit zu sichern. Ein Statement: „Ich bin kein Kind mehr, ich kann selbst entscheiden.“ Ironischerweise genau wie Kinder, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellen und rufen: „Ich bin schon groß!“

Ich habe mich lange nicht mit diesen Fragen beschäftigt. Ich war einfach „Teil des Systems“, wie man so schön sagt. Ich trank halt. Nicht viel, nicht auffällig – aber regelmäßig, gern, mit einem gewissen Selbstverständnis. Es gehörte einfach dazu. Und genau das ist der Punkt: Es gehört einfach dazu. So sehr, dass es fast unhöflich wirkt, nicht zu trinken. So sehr, dass es Rechtfertigungen braucht, wenn man ablehnt. So sehr, dass man sich als Frau mit einem alkoholfreien Getränk schnell erklären muss – „Nein, ich bin nicht schwanger. Nein, ich nehme keine Medikamente. Nein, mir geht’s gut.“

Als ich mich mit dem Thema Alkohol intensiver zu beschäftigen begann, fiel mir auf, wie normalisiert alles ist. Wie wenig wir über die tatsächlichen Gründe nachdenken.
Warum trinke ich heute eigentlich?
Warum fällt es mir schwer, darauf zu verzichten?
Warum fühle ich mich unwohl, wenn andere nicht trinken?
Warum verteidige ich mein Feierabendbier so heftig – selbst wenn ich weiß, dass es mir eigentlich nicht gut tut?

Und dann tauchte eine weitere Beobachtung auf: Die Grauzonen. Nicht die offensichtlichen Alkoholiker. Nicht die, die morgens mit Wodka anfangen. Sondern die vielen Menschen dazwischen. Die, die regelmäßig trinken, ohne es als Problem zu sehen. Die, die es verstecken, weil sie spüren, dass da was kippt – aber es noch nicht sichtbar ist. Die, die so gut funktionieren, dass niemand etwas merkt.
Ich kenne solche Menschen. Viele. Und einige davon sind mir sehr nah.

Statistisch gesehen trinkt die große Mehrheit der Erwachsenen in der Schweiz Alkohol. Rund 85 %. Über die Hälfte mindestens einmal pro Woche. Rund 12 % sogar täglich. Und etwa 16 % trinken in einem gesundheitlich riskanten Maß. (Zahlen aus 2022, FSO.) Das ist nicht „die Ausnahme“. Das ist Alltag. Und ja – Alkohol kann etwas sehr Verbindendes haben. Ein Gläschen auf der Terrasse, das Anstoßen bei der Hochzeit, der gemeinsame Drink beim Tanzen. Ich will das gar nicht kleinreden. Es gibt viele schöne Erinnerungen in meinem Leben, in denen Alkohol mitgespielt hat.

Aber seit ich nüchtern bin, weiß ich auch: Die schönsten Abende sind nicht verschwunden. Sie sind sogar noch echter geworden.
Ich lache mehr. Ich bin klarer. Ich kann Gespräche führen, ohne dass sie nach dem dritten Glas ins Leere driften. Ich wache am nächsten Tag auf – ohne Filmriss, ohne flaues Gefühl im Magen, ohne Bedauern. Und ich frage mich, warum ich so lange dachte, ich bräuchte das alles zum Glücklichsein. Oder wenigstens zum Nicht-nachdenken-Müssen.

Vielleicht ist es auch das: Wir trinken, um nicht zu fühlen. Um Stille zu vermeiden. Um dem Inneren auszuweichen. Denn nüchtern heißt: alles ist da. Die Freude, ja – aber auch die Unruhe, die Wut, die Sehnsucht. Und das ist manchmal unbequem.
Aber es ist auch ehrlich. Und lebendig. Und – irgendwann – sehr befreiend. Ich schreibe das nicht, um zu sagen: „Ihr müsst jetzt alle nüchtern leben.“ Wirklich nicht. Ich schreibe es, weil ich glaube, dass es sich lohnt, genauer hinzusehen. Nicht auf andere – sondern auf sich selbst.

Vielleicht triggert dich dieser Text. Vielleicht denkst du dir gerade: „Was weiß die schon – ich hab alles im Griff.“
Oder du lächelst müde und denkst: „Naja, ganz so unrecht hat sie nicht.“ Beides ist okay. Ich bin nicht hier, um zu werten. Ich bin hier, weil ich mir wünsche, dass wir über das Thema sprechen dürfen. Ohne Scham. Ohne Zynismus. Und ohne die alten Rollenbilder: der brave Mann, der trinkt, und die böse Frau, die ihm das vermiesen will.

Vielleicht ist es Zeit, dass wir diese Geschichte umschreiben. Mit Humor. Mit Herz. Mit einem klaren Blick ins Glas – ganz gleich, ob da Tee, Limo oder alkoholfreies Bier drin ist. Denn manchmal liegt die echte Freiheit nicht im „Ich darf das!“

Sondern im „Ich muss nicht mehr.“