Warum ich auf einmal so viel über Alkohol nachdenke – und was das mit mir macht
Zugegeben – ich bin ohne große Vorbereitung in mein alkoholfreies Jahr gestartet. Ein Kaltstart, sozusagen. Keine Strategie, kein Notfallplan, keine Vorstellung, was mich erwarten würde. Einfach mal los. Rückblickend war das vielleicht naiv – aber vielleicht auch genau richtig. Denn ich musste mich selbst überraschen.
Der Auslöser war simpel: ein Jahr ohne Alkohol (jaja - manche würden es Challenge nennen, damit es etwas hipper klingt - ich habs jedoch nie als solche betrachtet, weil ich vom Wesen her nichts mit Konkurrenzkampf, Wettbewerb und Dergleichen anfangen kann), mehr aus Neugier als aus Überzeugung. Ich hatte nicht vor, für immer alkoholfrei zu leben. Ich wollte mich nur mal beobachten. Mal schauen, wie es sich anfühlt, nichts zu trinken. Und dann kam der erste Stolperstein: die Beerdigung meiner Grossmutter. Mein erstes echtes Craving. Ich war traurig, überfordert, erschöpft – und mein Körper wollte instinktiv zu etwas greifen, das ich schon unzählige Male zur emotionalen Betäubung genutzt hatte: einem Glas Wein.

Es war ein seltsamer Moment. Einerseits war ich traurig über den Verlust meines geliebten "Grosis", wie ich sie immer nannte – andererseits erschrocken darüber, wie sehr mein Körper auf das gewohnte Muster gepolt war. Es war, als würde mein System sagen: „Okay, Schmerz – bitte Wein!“ Und ich musste mich bewusst dagegen entscheiden.
Damals hatte ich keine Craving-Strategie (und ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, dass es dafür überhaupt eine entsprechende Bezeichnung gibt). Ich blieb einfach beim Mineralwasser, weil mir in diesem Moment nichts Besseres einfiel. Und ja, ich dachte kurz daran, mein Vorhaben des alkoholfreien Jahres abzublasen. Wer würde es schon merken? Ich selbst. Und genau das war der Punkt. Also habe ich es durchgezogen – nicht aus Prinzip, sondern weil ich spüren wollte, wie es sich anfühlt, da einfach mal durchzugehen. Nüchtern. Ohne Betäubung.
Erst nach diesem Erlebnis wurde mir klar, wie tief Alkohol in meinem Alltag verwurzelt war – obwohl ich mich nie als „Trinkerin“ gesehen habe. Ich war keine, die jeden Tag trank. Ich war eher die, die „situationsbezogen“ trank. Wie so viele. Mal ein Glas zum Kochen, eins beim Treffen mit Freunden, ein Gin am Wochenende - und ein ungerades Mal auch etwas mehr als ich vertrug. Ich dachte nie groß darüber nach. Es war halt einfach normal.
Und genau da liegt das Thema: Es ist normal. So normal, dass wir es kaum hinterfragen.
Nach und nach begann ich, meinen Blick zu verändern. Anfangs wollte ich nach meinem alkoholfreien Jahr wieder „normal“ trinken – so wie früher. Doch je mehr ich spürte, wie sehr sich mein Körper, mein Kopf und mein ganzes Lebensgefühl veränderten, desto mehr entfernte sich dieser Wunsch. Und irgendwann im Frühling 2025 wurde mir klar: Ich will gar nicht mehr zurück (und am Rande bemerkt, ging es meinem Lebenspartner genau gleich).
Nicht, weil ich muss. Sondern weil ich nicht will.
Irgendwann im Frühling 2025 begann ich damit, mich intensiver mit dem Thema Alkohol auseinanderzusetzen. Plötzlich fiel mir auf, wie oft Menschen trinken. Wie tief das alles verankert ist. Wie selbstverständlich. Ich sehe fast jedes Wochenende junge Menschen bei mir im Moonliner Nachtbus, welche sich jedes Wochenende die Kante geben. Oder Menschen, für die der Apéro Morgens um 10:30 Uhr etwas vollkommen Selbstverständliches ist. Ich las bissige Online-Kommentare von Männern unter Artikeln über Alkoholfreiheit – voller Wut und Trotz: „Das lass ich mir nicht auch noch nehmen!“
Irgendwann wurde mir immer klarer: Dieses Thema ist so viel größer, als ich dachte. Und es macht etwas mit uns. Mit unserem Selbstbild, mit unserer Rolle in der Gesellschaft, mit unserer Fähigkeit, Gefühle auszuhalten. Ich entdeckte auf einmal neue Fragen – und konnte nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken.
Was macht Alkohol mit uns als Gesellschaft?
Warum verteidigen so viele Menschen ihr Glas so verbissen?
Wieso fühlt sich ein nüchternes Leben für viele wie ein Verlust an?
Und warum fällt es so schwer, einfach mal „Nein“ zu sagen – ganz ohne Diskussion?
Ich begann zu begreifen, dass es nicht nur zwei Gruppen gibt – die Alkoholiker und die Abstinenten. Dazwischen liegt eine riesige Grauzone. Eine unsichtbare Mehrheit, die nicht als problematisch gilt, aber oft mehr trinkt, als ihr guttut. Die nicht auffällt, aber innerlich oft mehr kämpft, als man sieht. Viele trinken, um zu funktionieren. Um Gefühle zu dämpfen. Um zu entspannen. Um dazuzugehören.
Es gibt den stillen Konsum – das Gläschen am Abend, das zweite, das dritte. Zuhause. Allein. Und es gibt das gesellschaftliche Trinken – mit Freunden, Kollegen, an Hochzeiten, Apéros, Beerdigungen. Und dann gibt es noch die kleinen Rituale, die wir gar nicht mehr bewusst wahrnehmen: das Glas zum Feierabend, das Bier zum Grillen, der Prosecco zum Geburtstag.
Ich fragte mich plötzlich: Was davon brauche ich wirklich? Und was davon ist einfach ein Automatismus?
Und woher kommt eigentlich dieser reflexartige Widerstand, wenn jemand nüchtern bleibt? Warum gelten Menschen, die keinen Alkohol trinken, so schnell als „Spaßbremse“ oder moralisch überlegen? Warum triggert es andere so sehr, wenn jemand einfach „Nein“ sagt?
Mir wurde klar: Alkohol ist identitätsstiftend. Er steht für Freiheit, Erwachsensein, Lebensfreude, Genuss. Aber auch für Eskapismus, Verdrängung, Nähe auf Knopfdruck. Und für ganz viele unbewusste Glaubenssätze. Ich glaube, viele von uns verbinden das erste Glas Alkohol unbewusst mit dem Loslösen vom Elternhaus. Mit dem Gefühl: Jetzt bin ich erwachsen, ich darf das jetzt. Vielleicht ist das eine These, vielleicht auch eine ganz persönliche Prägung – aber irgendwo da liegt ein spannender Punkt. Alkohol markiert einen Übergang. Und deshalb hängt so viel Emotion daran.
Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto mehr wollte ich verstehen. Jenseits von Pauschalurteilen. Ich wollte wissen, warum wir trinken – nicht nur dass wir es tun. Und ich wollte herausfinden, warum ein alkoholfreies Leben so stark mit Verzicht, Traurigkeit oder Langeweile assoziiert wird.
Denn genau das erlebe ich nicht. Im Gegenteil.
Seit ich alkoholfrei lebe, fühle ich mich präsenter. Klarer. Leichter. Ich kann besser schlafen. Ich bin wacher. Und – das hätte ich nie gedacht – ich lache mehr. Ich tanze mehr durchs Leben. Ich fühle intensiver. Vielleicht, weil nichts mehr gedämpft wird. Weil alles da sein darf. Auch das Unangenehme.
Und trotzdem: Ich will niemanden bekehren. Ich mag keine Moralkeulen. Ich halte nichts von erhobenem Zeigefinger. Und ich finde, es ist absolut in Ordnung, wenn jemand trinkt – solange er oder sie sich selbst nicht belügt (und selbst dies ist ja im Grunde genommen jedermanns eigene Sache - aber vielleicht darf man sich einfach die Frage stellen, weshalb man zu sich selbst unehrlich ist).
Und genau deshalb schreibe ich diesen Blog.
Ich möchte über all das reden, was oft unausgesprochen bleibt. Ich möchte Gedanken teilen, Fragen stellen, Impulse geben. Ohne Druck. Ohne Besserwisserei. Ich will zeigen, dass ein alkoholfreies Leben keine Einschränkung ist – sondern ein Geschenk. Und dass man auch ohne Prozente lachen, feiern, tanzen und genießen kann. Ganz ehrlich: Wer sagt eigentlich, dass es nur mit Alkohol lustig ist?
Vielleicht sollte man sich bei der nächsten „Spaßbremse“-Bemerkung eher fragen, warum man selbst den Alkohol so dringend braucht, um locker zu sein.
Ich habe inzwischen so viele kleine, große und alltägliche Beobachtungen gesammelt, dass ich am liebsten täglich darüber schreiben würde. Und es ist fast ein bisschen ironisch: Ich habe die meiste Zeit meines Lebens überhaupt nicht über Alkohol nachgedacht – und jetzt ist mein Kopf voller Fragen.
Zum Beispiel:
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Warum trinken viele Menschen täglich – und merken es selbst nicht?
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Warum ist es gesellschaftlich akzeptierter, zu viel zu trinken, als gar nicht?
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Wie verändert sich eine Partnerschaft, wenn beide nüchtern leben?
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Warum machen alkoholfreie Drinks plötzlich solchen Spaß?
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Was steckt hinter dem reflexhaften „Das lass ich mir nicht auch noch nehmen“?
Die Zahlen sprechen übrigens eine deutliche Sprache:
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In der Schweiz konsumieren rund 85 % der Erwachsenen Alkohol.
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55 % trinken regelmäßig, also mindestens einmal pro Woche.
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12 % trinken täglich (Quelle: Bundesamt für Statistik).
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Etwa 7 % der Bevölkerung gelten als alkoholabhängig.
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Und rund 16,4 % trinken in einem gesundheitlich riskanten Maß.
Das sind keine Randphänomene. Das ist Alltag. Und darüber zu schreiben, ist keine Missionierung – es ist Aufklärung. In meinem Stil. Undogmatisch. Offen. Ohne Schublade. Mit einem Augenzwinkern. Ich glaube, wir brauchen mehr Stimmen dazwischen – zwischen trockenen Studien und trockenem Humor, zwischen Blaukreuz und Prosecco-Kultur. Stimmen, die ehrlich fragen: Geht’s mir eigentlich wirklich gut mit dem, wie ich trinke? Und die zeigen, dass Veränderung nicht zwingend mit Verzicht zu tun haben muss, sondern mit Wahlfreiheit. Mit Klarheit. Und vielleicht sogar mit Freude.
Und du?
Was geht dir durch den Kopf, wenn du über das Thema Alkohol nachdenkst?
Was wäre, wenn du dir selbst die Frage stellst: „Was gibt mir Alkohol – und was nimmt er mir?“
Vielleicht findest du, wie ich, ein paar ganz neue Antworten.