Wie ich (ungeplant) alkoholfrei wurde – und dabei viel mehr gewann als erwartet
Ich wurde ja eher zufällig „alkoholfrei“. Es war nie meine feste Absicht, komplett auf Alkohol zu verzichten. Zu sehr liebte ich die gemütliche Pub-Atmosphäre, das Klirren der Gläser, das leise Summen der Gespräche – und in der Hand ein Guinness oder ein guter Gin Tonic. Alkohol war für mich nicht problematisch im klassischen Sinn. Aber er war immer irgendwie da. Beim Anstoßen, beim Entspannen, beim Feiern.
Wie man in meiner „Alkoholfrei-Geschichte“ nachlesen kann, hatte ich im Januar 2024 die fixe Idee, mal für einen Monat keinen Alkohol zu trinken. So eine kleine Challenge, mehr aus Neugier und Selbstbeobachtung als aus echtem Verzichtswunsch. Mein Partner war sofort dabei – und legte spontan nach: „Wie wär’s mit einem ganzen Jahr?“ Ich lachte erst. Dann dachte ich: Warum eigentlich nicht?
Ich erwartete nicht viel. Es war eher ein Test an mich selbst. Ich wollte herausfinden, wie sehr der Alkohol wirklich in meinem Alltag verankert war. Ob ich ihn vermissen würde. Ob ich mich „weniger ich“ fühlen würde. Und vor allem: ob es überhaupt spürbare Veränderungen geben würde.

Schon nach den ersten Wochen war klar: Irgendetwas tut sich. Mein Schlaf wurde ruhiger. Mein Energielevel am Morgen war stabiler. Und mein Kopf – so seltsam das klingen mag – wurde leiser. Klarer. Weniger vernebelt. Kein Katergefühl mehr, keine unterschwellige Gereiztheit nach nur einem Glas zu viel am Vorabend. Und spätestens nach drei Monaten merkten wir beide: Da verändert sich nicht nur körperlich etwas. Auch emotional wurde vieles anders.
Es war kein plötzlicher Schalter. Eher ein leises, kontinuierliches Umschalten. Unser Körpergefühl wurde klarer. Der Heißhunger auf Fettiges oder Zucker verschwand. Die Haut wurde besser. Und – für mich fast das Überraschendste – ich fühlte mich innerlich aufgeräumter.
Natürlich gab es Momente, die schwierig waren.
Ich erinnere mich sehr gut an meine erste echte Herausforderung: die Beerdigung meines Grosis im April. Es war ein emotional schwerer Tag. Beim gemeinsamen Mittagessen wurde Wein serviert – fast alle griffen wie selbstverständlich zum Glas. Ich war einfallslos, blieb beim Mineralwasser. Aber innerlich war ich alles andere als ruhig. In meiner Trauer hätte ich nur allzu gern zu einem Glas Wein gegriffen. Einfach, um diesen Kloß im Hals für einen Moment zu betäuben. Um mir etwas Ruhe vor dem Schmerz zu gönnen.
Es war der erste Moment, in dem ich spürte, wie sehr Alkohol oft unbewusst zur Emotionsregulation genutzt wird. Ich dachte tatsächlich für einen Wimpernschlag daran, mein Vorhaben über Bord zu werfen. Heute weiß ich: Das war ein Craving. Ein klassischer, emotional ausgelöster Impuls. Damals hatte ich keine Strategie, keinen Plan B. Ich habe es einfach durchgestanden. Ich saß da, mit meinem Mineralwasser – und hielt es aus.
Im Nachhinein war ich stolz. Und ein bisschen erstaunt. Denn ich hätte nicht gedacht, dass so eine Situation so viel in mir auslösen kann. Gleichzeitig wurde mir klar: Für die nächsten gesellschaftlichen Anlässe brauche ich eine bessere Alternative. Etwas, das mich emotional besser abholt als stilles Wasser in einem Sektglas.
Im Mai flogen wir nach Dubai. Dort ist Alkohol nicht komplett verboten, aber deutlich weniger präsent als bei uns. In vielen Restaurants gibt es zwar Wein- oder Bierkarten – aber die lockenden Auslagen und Aperitif-Terrassen wie bei uns fehlen. Dadurch war das Verzichtgefühl automatisch kleiner. Und wir begannen, neue Dinge auszuprobieren: Mocktails, arabischen Kaffee, frisch gepresste Granatapfelsäfte. Wir realisierten: Genuss braucht nicht zwingend Alkohol. Es war, als würde sich eine neue Welt öffnen – eine Welt voller Geschmack, Ritual und Freude, nur eben ohne Prozente.
Alkoholfreies Bier war zu diesem Zeitpunkt noch kein grosses Thema für uns. Vor allem beim Guinness hatten wir Hemmungen – zu sehr verbanden wir es mit bestimmten Momenten: kalten Herbstabenden, Kaminfeuer, irischen Pubs, lauten Gesprächen, tiefer Gemütlichkeit. Wir hatten Angst, dass eine alkoholfreie Version dieses Bild zerstören könnte.
Doch der Sommer kam – und mit ihm die nächste Etappe. Normalerweise tranken wir auf Ausflügen gerne ein kühles Bier. Als Durstlöscher, zur Belohnung, zum Abschalten. Also wagten wir es: der erste Versuch mit alkoholfreiem Bier. Ohne große Erwartung – aber mit umso größerer Überraschung. Viele Sorten schmeckten fantastisch. Besonders die deutschen Brauereien überzeugten uns. Ich weiß, Geschmack ist subjektiv – aber bei den meisten Schweizer alkoholfreien Bieren hatte ich das Gefühl: einmal probiert, alle probiert. Bei den deutschen Sorten entdeckten wir Vielfalt, Tiefe, sogar Charakter.
Es war ein bisschen wie beim Umstieg auf Pflanzenmilch – man muss sich durchprobieren, bis man seine Favoriten gefunden hat. Und irgendwann merkt man: Es fehlt einem nichts mehr.
Als der Herbst kam, trauten wir uns endlich an das alkoholfreie Guinness. Wir machten ein kleines Ritual daraus: Serienabend auf dem Sofa, die Dose bereit, das Guinnessglas poliert. Beim Öffnen hörten wir das bekannte Klicken – die Kugel war tatsächlich drin. Floating Widget und alles. Der Schaum stimmte, die Farbe auch. Und dann der erste Schluck: wow. Der Geschmack war da – fast identisch, nur ohne die wärmende Alkoholspur im Rachen. Selbst der typische Espressoton fehlte nicht.
Ab da war klar: Das alkoholfreie Guinness ist keine Notlösung – es ist eine Alternative mit Stil.
Im Laufe des Jahres wurden wir zu echten 0 %-Bierexperten. Ich mag es gerne leicht – z. B. Jever Fun oder Erdinger Alkoholfrei. Mein Partner bevorzugt dunklere Sorten. Gemeinsam lieben wir das alkoholfreie Paulaner, besonders als Bananenweizen (Tipp: einfach Bananensaft dazu und genießen). Bei Allnatura fanden wir sogar die dunklen Radler von Lambsbräu – eine kleine Offenbarung.
Ganz ehrlich: Ich denke, ich sollte bald mal einen separaten Blogbeitrag über unsere Lieblingsbiere schreiben.
Alkoholfreien Wein haben wir natürlich auch getestet. Weißwein? Durchaus trinkbar, mit manchen Sorten sogar überraschend gut. Rotwein? Leider nein. Bis heute haben wir keinen gefunden, der wirklich überzeugt.
Und was mich wirklich positiv überrascht hat: Ich hatte in Gruppen nie das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Egal ob Firmenanlass, Weihnachtsfeier oder Geburtstag – ich sagte einfach „nein, danke“ und das war’s. Vielleicht liegt’s am Alter (ich bin nicht mehr Anfang 20), vielleicht auch an meiner inneren Klarheit. Ich war ruhig, freundlich, vorbereitet. Ich hatte sogar ein paar schlagfertige Sätze im Hinterkopf – die ich dann nie brauchte.
Im November machten wir einen Städtetrip nach Istanbul – dort entdeckten wir den türkischen Chai. Während man in der Schweiz den Feierabend oft mit einem Glas Wein oder Bier ausklingen lässt, sitzt man dort bei einer Tasse Tee zusammen. Für uns war das eine wunderschöne Entdeckung. Ich liebe Tee sowieso – Earl Grey ist mein Dauerbrenner – aber dieser Chai hatte etwas Verbindendes, Erdendes.
Kaum zurück in der Schweiz kauften wir ein traditionelles Teekannenset. Mein Partner nahm sogar eines mit zur Arbeit – inklusive Herdplatte. Seitdem ist Chai unser neues Ritual. Auch wenn Gäste kommen, zelebrieren wir das gemeinsame Teetrinken. Und weißt du was? Alle lieben es. Niemand vermisst den Alkohol.
Im Januar 2025 ging unser alkoholfreies Jahr offiziell zu Ende. Wir reisten nach Sri Lanka, ließen die Sonne auf unsere Gesichter scheinen und überlegten: Wollen wir zurück zum alten Muster?
Die Antwort war klar: nein. Nicht, weil wir müssen. Nicht, weil wir jetzt „für immer“ abstinent leben. Sondern, weil es sich so viel besser anfühlt. Unsere Lebensqualität hat sich auf allen Ebenen verbessert – körperlich, seelisch, sozial.
Ganz ohne Dogma. Ganz ohne Zeigefinger. Einfach, weil es passt.
Und falls du dich fragst, ob das auch für dich möglich wäre – vielleicht ist der Gedanke gar nicht so weit weg. Vielleicht reicht ein neugieriger Monat, ein Experiment, ein ehrlicher Blick auf dein Leben. Und wer weiß – vielleicht stellst auch du fest, dass alkoholfrei nicht Verzicht bedeutet, sondern ein neues Gefühl von Freiheit.